Die humanitäre Schweiz

Es wird unterschieden zwischen Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Hilfe. Unter humanitärer Hilfe versteht man sämtliche staatlichen und privaten Nothilfemassnahmen, die im Ausland zur Rettung von Menschenleben und zur Linderung von Leiden aufgrund bewaffneter Konflikte, innerer Wirren, Natur- und Umweltkatastrophen beitragen. Die Entwicklungszusammenarbeit ihrerseits verfolgt langfristige Ziele. Häufig schliesst sie an die unmittelbare Nothilfe bei Katastrophen und Konflikten an und konzentriert sich auf den Wiederaufbau zerstörter Infrastruktur. Ihr Hauptziel ist es, einen Beitrag zum Ausgleich zwischen Nord und Süd zu leisten, indem sie die ärmsten Länder in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Wirtschaft und beim Aufbau von staatlichen Strukturen unterstützt, welche die Mitbestimmung und die Gleichberechtigung der Bevölkerung ermöglichen.

Humanitäre Hilfe

Jahrzehntelang war das Rote Kreuz nach seiner Gründung 1863 die einzige Organisation, die den Opfern bewaffneter Konflikte half. Nach dem Ersten Weltkrieg trugen dann neue Hilfswerke zur Weiterentwicklung der schweizerischen humanitären Arbeit bei. Sie gingen oft aus religiösen Milieus hervor oder wurden auf privater Basis initiiert. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs beschränkten diese Organisationen ihre Hilfe allerdings auf Europa und unterstützten hauptsächlich jene Menschen, denen sie sich verbunden fühlten, sei es auf ideologischer oder religiöser Ebene. Die humanitäre Hilfe war für die offizielle Schweiz auch ein politisches Instrument, insbesondere während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Indem die Schweiz Aktionen wie etwa die «Schweizer Spende» lancierte und unterstützte, verbesserte sie ihr Ansehen bei den Alliierten und ermöglichte sich so den Eintritt ins Nachkriegs-Europa. Eng verbunden mit dem Roten Kreuz war stets die Idee eines humanitären Völkerrechts, das sich in den vier Genfer Abkommen von 1949 konkretisierte, welche die erste Genfer Konvention von 1864 ergänzten. Die Genfer Abkommen regeln das Verhalten im Falle von bewaffneten Konflikten mit dem Ziel, Kriegsverbrechen zu verhindern.
Während sich die humanitäre Tätigkeit ausdehnte, veränderten sich auch die Kriege. Seit den 1950er-Jahren überwiegen innerstaatliche Konflikte wie Bürgerkriege und Unruhen, Konfrontationen zwischen Staaten wurden seltener. Die humanitäre Hilfe beschränkte sich nun nicht mehr nur auf Europa, sondern wurde auf alle Kontinente ausgedehnt. Im Kontext des Kalten Krieges spielten zudem die Staaten beider Blöcke gerne die humanitäre Karte aus.
Im Biafra-Krieg Ende der 1960er-Jahre mussten die humanitären Organisationen feststellen, dass die Neutralität gegenüber den Kriegsparteien nicht in jedem Fall aufrechterhalten werden kann. Für die humanitären Organisationen stehen die Opfer im Vordergrund. Um ihnen zu helfen, muss man Partei ergreifen. Ausserdem wollten sich Organisationen nicht mehr damit zufrieden geben, den Opfern Nothilfe zu leisten, sondern versuchten darüber hinaus, die potenziellen Spenderinnen und Spender im Westen für die tiefer liegenden Ungerechtigkeiten und Probleme zu sensibilisieren, indem sie diese publik machten und denunzierten.
Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 und dem Ende des Kalten Krieges trat ein neuer Typ von «unstrukturierten» Konflikten auf, bei denen es oft um ethnische Identität und Religion geht. Obwohl nur schwach organisiert und bewaffnet, agiert in solchen Konflikten eine Vielzahl von Akteuren mit extremer Gewalt, die sich primär gegen die Zivilbevölkerung richtet. Diese neuen Konflikte machen die humanitäre Arbeit immer schwieriger und gefährlicher, und es müssen neue Formen der Intervention gefunden werden.
Die humanitäre Arbeit ist nicht immer unproblematisch. So kann es vorkommen, dass Geld nicht den Opfern eines Konflikts zugute kommt, sondern in den Taschen korrupter Beamter verschwindet. Oder dass eine Lebensmittelsendung, die für die Zivilbevölkerung bestimmt war, in den Bäuchen von Soldaten landet. Einige Hilfsaktionen waren lebensfremd, in manchen Fällen versagte die Logistik und unentbehrliche Lebensmittel verdarben in Lagerhallen. Vorkommnisse wie diese führten dazu, dass die humanitäre Arbeit kritisch hinterfragt wurde und sich aufgrund solcher Analysen gewandelt hat.
Die humanitäre Arbeit beschränkt sich inzwischen nicht mehr auf die Nothilfe während Konflikten, sondern versucht, die Opfer längerfristig zu unterstützen. So wird mit den im Westen gesammelten Spenden medizinische Infrastruktur aufgebaut und vor Ort Pflegepersonal ausgebildet. Die lokalen humanitären Akteure werden dabei immer wichtiger. Darüber hinaus werden nicht mehr nur die in Folge eines Konflikts Verwundeten gepflegt, sondern auch Opfer von Krankheiten wie Malaria oder Aids.
Wer sich für die humanitäre Sache engagiert, tut dies aus ganz unterschiedlichen Gründen: Solidarität, religiöses Engagement, Ideologie, Abenteuerlust, etc. Manche Helferinnen und Helfer arbeiten ehrenamtlich für Kost und Logis, ohne eigentliches Honorar. Andere sind angestellt und haben ihre humanitäre Berufung zum Beruf gemacht. Während sich frühere IKRK-Delegierte während eines Urlaubs oder Studienunterbruchs an humanitären Aktionen beteiligten, tun dies die heutigen im Rahmen einer mehrjährigen beruflichen Anstellung. Zudem bietet der humanitäre Bereich und die Entwicklungszusammenarbeit wegen der Vielzahl der Organisationen mehr Beschäftigungsmöglichkeiten als früher. Alleine in der Schweiz gibt es etwa 3000 Hilfsorganisationen, die sich einen Spendenmarkt von schätzungsweise einer Milliarde Franken teilen.
Angesichts der zunehmenden Mediatisierung von Konflikten steht die humanitäre Tätigkeit immer stärker unter dem Einfluss der Logik der Medienberichterstattung. Über manche Konflikte spricht die ganze Welt, folglich muss dort interveniert werden. Aus Imagegründen erwartet manche Regierung von den humanitären Organisationen, die sie unterstützt, dass diese sich vor allem dort engagieren, wo dies durch die Medien sichtbar gemacht wird. Diese Verflechtung von Politik und humanitärer Arbeit konnte beispielsweise 1992 in Somalia oder 2001 in Afghanistan beobachtet werden.
Die humanitäre Arbeit und die Entwicklungszusammenarbeit finden in einem immer komplexeren Umfeld statt, in dem sich der Druck der Mediatisierung und die Konkurrenz stark bemerkbar machen. Eine kritische Reflexion der Bedingungen, unter denen heute gearbeitet wird, ist deshalb sehr wertvoll.

Entwicklungszusammenarbeit

Die Anfänge der Entwicklungszusammenarbeit lassen sich bis in die Zeiten des Völkerbundes zurückverfolgen. Doch erst die multilateralen Entwicklungskonzepte, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Teil der Nachkriegsordnung entstanden, übten Einfluss auf die schweizerische Aussenpolitik aus. Im Zentrum dieser Debatte stand die Einsicht, dass eine langfristige Politik der Friedenswahrung und Konfliktvermeidung nicht umhinkommt, dazu beizutragen, die sozialen Ungleichgewichte zu überwinden. Der wichtigste Ausdruck dieses Friedenskonzepts ist Artikel 55 der UNO-Charta.

Zuerst waren es in der Schweiz private Organisationen, die Entwicklungszusammenarbeit leisteten. Anfang der 1950er-Jahre befasste sich dann erstmals der Bund mit technischer Hilfe. Damals ging man noch davon aus, Entwicklung lasse sich durch die Behebung von technisch-wissenschaftlichen Mängeln in den Ländern des Südens bewerkstelligen. In der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre wurde die technische Hilfe durch die «handelsbezogene» Entwicklungshilfe ergänzt. Damit nahmen die Wirtschaftsverbände wachsenden Einfluss auf die Entwicklungszusammenarbeit.
Mitte der 1950er-Jahre weiteten einige Hilfswerke, wie etwa das Hilfswerk für Evangelische Kirchen der Schweiz (HEKS), ihr Tätigkeitsfeld auf die so genannte Dritte Welt aus: 1955 wurde das Schweizerische Hilfswerk für aussereuropäische Gebiete (SHAG; ab 1965 Helvetas) gegründet. Die Privatwirtschaft richtete 1959 eine Schweizerische Stiftung für technische Entwicklungszusammenarbeit (ab 1974 Swisscontact) ein. Innerhalb weniger Jahre konnte ein Grossteil der Bevölkerung sensibilisiert werden für eine Entwicklungshilfe, die in erster Linie der Vermittlung von Know-how dienen sollte. Zur Rechtfertigung des Engagements wurden moralische Argumente (Beitrag zur Friedenssicherung), aber auch wirtschaftliche Gründe angeführt.
Drei Ereignisse zeigen den Umschwung, der sich in den frühen 1960er-Jahren vollzog: Die Schaffung des Dienstes für technische Zusammenarbeit (DftZ, später DEZA), die Erhöhung des Kredits für Entwicklungshilfe (ein Kredit in der Höhe von 60 Millionen Franken über drei Jahre wurde 1961 angenommen) und die Aufstockung der bilateralen Hilfe. Zwischen 1960 und 1970 fand die Entwicklungszusammenarbeit breite Unterstützung. Anfänglich stellte der Bundesrat sie als notwendige und apolitische solidarische Verpflichtung dar, während sie in anderen Ländern als Kampfmassnahme gegen den Kommunismus begriffen wurde. Insbesondere nach 1967 galt sie hinsichtlich der konvergenten Interessen der Länder des Südens und des Nordens als Aufgabe von nationalem Interesse. Nach 1970 belebte sich die Diskussion auf internationaler Ebene (Dependenztheorie, Self-Reliance-Politik, Verkündung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung, Strategien zur Deckung der Grundbedürfnisse usw.).
Die DEZA erbringt heute ihre Leistungen mit rund 600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im In- und Ausland sowie 1000 lokalen Angestellten. 2010 beträgt das Budget 1.57 Milliarden Franken. Ein Teil dieses Geldes fliesst für Projekte an private Organisationen, die in der Regel der Arbeitsgemeinschaft der schweizerischen Hilfswerke angehören (Swissaid, Fastenopfer, Brot für alle, Helvetas, Caritas) und eng mit der DEZA zusammenarbeiten, ohne immer den gleichen politischen Standpunkt zu vertreten. Die Grundsätze der Zusammenarbeit, die 1976 gesetzlich geregelt wurden, gaben immer wieder Anlass zu politischen Debatten, die massgeblich von der 1968 gegründeten Erklärung von Bern (EvB) geprägt wurden.
Seit den 1960er-Jahren verlangt die UNO, dass die Industrieländer 0,7% ihres Bruttonationaleinkommens (BNE) für die Entwicklungshilfe aufwenden. Die öffentliche Entwicklungshilfe der Schweiz betrug im Jahre 2009 0,47% des Bruttonationaleinkommens (BNE). Im Vergleich zu den anderen DAC-Geberländern (Development Assistance Committee DAC, dem Entwicklungshilfeausschuss der OECD) liegt die Schweiz damit an 10. Stelle von 23 DAC-Ländern.

© humem | realisation: hopping mad, Zürich